Ich kaufe, also bin ich

14 Απριλίου, 2024 § Σχολιάστε

H.-M. Lohmann

Ich kaufe, also bin ich (Αγοράζω, άρα υπάρχω)

Panajotis Kondylis über den Niedergang der bürgerlichen Denk-und Lebensform

Was bedeutet das inflationäre Gerede von der Postmoderne? Soweit zu sehen ist, hat es bislang noch niemand vermocht, jenes Gerede aus berufenem und unberufenem Munde, das die Feuilletons und die schicken Magazine der sogenannten Kulturgesellschaft überflutet, auch nur annähernd so überzeugend zu erklären wie Panajotis Kondylis — ein Autor, der wie einst Günter Netzer «aus der Tiefe des Raumes» kommt.

Nicht nur das, was man Postmoderne zu nennen sich angewöhnt hat, ist ein erklärungsbedürftiges Phänomen, sondern eben auch das pausenlose Gerede darüber. Eine Gesellschaft, die sich im Status der Postmodernität wähnt, reflektiert diesen Status in einem polyphonen, dissonanten Stimmenkonzert, indem sie ihren materiellen und geistigen Hervorbringungen unentwegt attestiert, sie seien postmodern. Dieser tautologischen Praxis, die sich immerfort selber versichern muß, was sie angeblich oder tatsächlich ohnehin ist, geht Kondylis in seinem neuen Buch auf den Grund. Es ist das Fundierteste und Gescheiteste, was man seit langem gelesen hat.

Der «Sinn» des Geredes besteht Kondylis zufolge darin, daß es jeden Sinn zersetzt und dergestalt die Funktionsimperative einer Gesellschaft, deren Identität in der massenhaften Ex und hopp Mentalität des schnellen Konsumierens liegt, strikt erfüllt. Die modernen westlichen Gesellschaften, so die Diagnose des Autors, steuern ihre Selbsterhaltung und Selbstexpansion dadurch, daß sie keinen Sinn mehr gelten lassen, außer dem, daß es keinen gibt. Die sich selbst dementierende Attitüde etwa postmoderner Theoretiker, es existiere kein Autor Ich mehr, welches die Einheit des Textes und einen bestimmten Wirklichkeitsbezug verbürge, beide müßten vielmehr vom jeweiligen Leser individuell «erfunden» werden, korrespondiert für Kondylis mit der Tatsache, daß der massenhafte Individualismus auf immer neue Attribute aus ist, die beliebig austauschbar sind. Als postmodern, mit einem Wort, darf sich eine Gesellschaft bezeichnen, in der Güterknappheit, von der alle Gesellschaften vor oder neben dem Kapitalismus geschlagen sind, überwunden ist und die sich deshalb den Luxus leisten kann, auf einen verbindlichen Wertekanon zu verzichten. Alles ist käuflich, alles folglich erlaubt.

Nun geht es Kondylis nicht um eine Denunziation der Postmoderne beziehungsweise des avanciertesten Kapitalismus, obwohl manche seiner Ausführungen verdächtig danach klingen, sondern um die theoretische Bestimmung des gegenwärtigen Zeitalters. Zu diesem Zweck operiert er mit einem begrifflichen Instrument, das es ihm erlaubt, die «massendemokratische» Postmoderne von der bürgerlich liberalen Moderne säuberlich zu scheiden.

Kondylis statuiert nicht zuerst inhaltliche Kriterien, die eine solche Abgrenzung ermöglichen, sondern formale. Der «Denkstil» oder die «Denkfigur» der liberalen Moderne sei von synthetischharmonisierendem Charakter, während die prägende Figur der Postmoderne als analytisch kombinatorisch zu bezeichnen sei «Diese beiden grundlegenden Denkfiguren», heißt es im Einleitungskapitel des Buches, «sind die verdichtete ideelle Gestalt bzw. Seite von bestimmten konstitutiven Merkmalen, deren materielles Korrelat in der Beschaffenheit und Funktionsweise der entsprechenden sozialen Gebilde zu finden ist » Das Hingt zunächst einmal außerordentlich abstrakt. Freilich bemüht Kondylis im folgenden eine Reihe überzeugender historischer Argumente und Beispiele, die dem Duktus seiner Gedanken ein ziemlich solides Fundament verschaffen. Inwiefern läßt sich die bestimmende «Denkfigur» der liberalen Epoche, deren Höhepunkt Kondylis, darin dem mainstream der historischen Forschung von Craig bis Hobsbawm folgend, im 19. Jahrhundert sieht, als «synthetisch harmonisierend» charakterisieren? Kondylis erkennt die große Leistung der bürgerlichen Moderne darin, daß sie als Antwort auf und in Opposition zur theologisch dualistischen Weltdeutung der Prämoderne Widersprüche wahrnimmt und zugleich ausbalanciert: etwa den Widerspruch zwischen Geist und Natur, Norm und Trieb, Gemeinwohl und Privatinteresse. Die Spannung zwischen handfest diesseitiger Vorteilsnahme und moralischen Geboten wird dergestalt gelöst, daß die Existenz Gottes zwar nicht grundsätzlich bestritten, aber doch so weit relativiert wird, daß Gott sich nicht mehr unberechenbar in das Weltgeschehen einzumischen vermag. Die auseinanderstrebenden Teile des bürgerlichen Kosmos finden sich — ganz wie in dem berühmten Bild Adam Smith von der «unsichtbaren Hand» — immer wieder zu einem natürlichen Ganzen zusammen, welches fragloser Akzeptanz seitens der Gesellschaftsmitglieder sicher sein darf. «Bürgerliches Denken übt sich an der Arbeit der Synthese und der Harmonisierung», resümiert Kondylis.

Solcher Wille zur Synthese treibt Philosophien, Literaturen, Künste und Wissenschaften hervor, in denen das «natürliche Ganze» seinen selbstverständlichen Vorrang gegenüber den zentrifugalen Kräften des Subjektiven, Formauflösenden und Sinnzerstörenden behält. Die «Denkfigur» der liberalen Ära ist insofern objektiv, als sie die gegenstrebige Figur des Subjektivismus und der Indifferenz — die freilich im Schöße der bürgerlichen Gesellschaft schlummert — erfolgreich in Schach zu halten vermag.

Im umfangreichsten Kapitel seines Buches schildert Kondylis sodann die Ablösung dieses «Denkstils» durch den analytisch kombinatorischen. Protagonisten dieser Ablösung sind Literaten, Künstler, Bohemiens, die, wie Kondylis mit sarkastischen Formulierungen beschreibt, unter dem Banner von «Selbstverwirklichung» und «Authentizität» das Geschäft einer schrankenlosen Subjektivierung der Welt betreiben.

Wo vorher, Kondylis zufolge, in der Lyrik die strenge Zucht des Sinns und der Form herrschte, waltet nunmehr die Despotie des reinen Klangs und der unreglementierten Form: anything goes. Der Roman, vordem wenn nicht Abbild, so doch Sinnbild bürgerlicher Lebensführung, verflüchtigt sich in die Beliebigkeit subjektiver Assoziationen und endloser Bewußtseinsströme, in denen sich nicht der «Sinn», sondern der «Trieb» artikuliert. Spätestens seit dem Impressionismus zerlegt die Malerei Formen und Farben in letzte Bauelemente, die man immer neu zusammensetzen, kombinieren kann. Nicht anders in Architektur und Musik, in den Wissenschaften und in der Philosophie. Die Welt wird nicht mehr, wie in der liberalen Moderne, synthetisiert und auf ein Ganzes hin gesehen; sie wird jetzt analytisch auseinandergenommen, zersetzt und atomisiert. An die Stelle eines verläßlichen Zeitbewußtseins, das es den Individuen erlaubte, sich in einem historischen Kontinuum zu begreifen — daher die unangefochtene Herrschaft der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert —, ist ein diffuses Raumbewußtsein getreten, das die Welt wie Teile eines Puzzles wahrnimmt und zusammenfügt — daher die (post)moderne Dominanz der Sozialwissenschaften, die Gesellschaften nicht in diachronischer, sondern in synchronischer, sozusagen verräumlichter Perspektive betrachten.

Diese Tendenzen, die Kondylis in der Tat als solche verstanden wissen will, konvergieren nun mit einem Faktum, dessen Evidenz schwerlich von der Hand zu weisen ist. Das Aufkommen neuer industrieller Produktionsmethoden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Stichwort, «Fordismus», die es historisch erstmals ermöglichen, billige Massenprodukte herzustellen, erzeugten vor allem in den quantitativ sich ausbreitenden und sozial mobilen Mittelschichten einen Konsumententypus, der bis dahin unbekannt war. Auch wenn die Lebenseinstellung des liberalen Bürgers keineswegs asketisch war, so war sie doch gefärbt von einer inneren Haltung, die den Konsum materieller Güter nicht als letzten Zweck setzte. Diese Einstellung bricht, unter dem doppelten Druck der industriekapitalistischen Freisetzung technischer Rationalität und der Auflösung traditioneller Verbindlichkeiten, nunmehr zusammen. Es ist die historische Stunde ganz neuer Konsumentenmassen, deren Credo «Ich kaufe, also bin ich» lautet. Gefragt ist jetzt nicht mehr, wie Kondylis witzig anmerkt, der «Held der Arbeit», vielmehr der «Held des Konsums». Konsumieren wird «zu einer besonderen Tätigkeit neben dem Arbeiten», es ist nicht mehr Appendix des Arbeitsalltags oder Belohnung für dessen Mühen, sondern autonomes Betätigungsfeld der Mitglieder moderner Massendemokratien. Dieser historisch neue Hedonismus breitester sozialer Schichten, der von konservativer Seite gerne als Abweichung vom rechten Pfad bürgerlicher Tugend gegeißelt wird, steht, wie Kondylis überzeugend darlegt, keineswegs quer zu den Rationalitäts- und Leistungsforderungen des Kapitalismus, sondern ist deren notwendiges Pendant. Denn ohne die hedonistische Einstellung riesiger Massen von Konsumenten, ohne die Gleichgültigkeit gegen den Gebrauchswert der Dinge, ohne den irrationalen Individualismus der Käufer, ohne die radikale Absage an Traditionen verliert eine Wirtschaftsordnung, die Güter im Überfluß produziert und auf deren Absatz sie existenziell angewiesen ist, ihre Grundlage. Um es an einem populären Beispiel zu verdeutlichen: Der vielfach beklagte «Verfall der Familie» und die allenthalben angeprangerte «Kinderfeindlichkeit» sind nicht bedauerliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die es mit sozialstaatlichen Maßnahmen wie Kindergeld und Erziehungsurlaub zu korrigieren gelte; sie sind im Gegenteil die eherne Konsequenz eines Systems, in welchem sich jeder «selbstverwirklichen» kann, nein: muß.

Das Buch von Kondylis, bei dessen Lektüre man nie genau weiß, ob es nur kühl diagnostiziert, was der Fall ist, oder ob es zugespitzteste Kapitalismuskritik ist, beschreibt den «Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform» in einer Schlüssigkeit, die frappiert. Man hört, bei aller Kälte und «Wertfreiheit» der Analyse, einen Ton leiser Trauer heraus: Wo es in der liberalen Moderne noch einen integralen Vernunftbegriff gab, der Widersprüche zu versöhnen vermochte, da herrscht in der massendemokratischen Postmoderne bloß noch Indifferenz; wo man früher auf die «Ordnung der Dinge» bauen konnte, da regiert heute Anomie; wo einstmals ein selbstbewußtes Individuum war, da ist jetzt nur noch ein konformistischer Individualismus — «je weniger Individuum, desto mehr Individualismus» (Adorno).

Kondylis zeitdiagnostisches Werk, eine singuläre Leistung, reizt zu mancher Widerrede. Es scheint, als sei der Autor in seinem Bestreben, den eigentümlichen «Denkstil» der Postmoderne herauszupräparieren, der Gefahr der Idealisierung der liberalen Moderne erlegen. Vielleicht hat es in einem flüchtigen historischen Augenblick ja tatsächlich jene Machtbalance zwischen «Geld und Geist» gegeben, von der Gordon A. Craig in seinem gleichnamigen Buch über das Zürcher Patriziat zwischen 1830 und 1870 erzählt hat. Dennoch bleibt fraglich, ob die bürgerliche Denk- und Lebensform jemals in solch klassischer Reinheit existiert hat, wie Kondylis zuweilen suggeriert. Die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts war womöglich doch fragiler und widersprüchlicher — man denke an die deutsche Frühromantik oder an Figuren wie Poe, Balzac, Baudelaire und Flaubert, die die Zerrissenheiten des liberalen Kosmos literarisch feinnervig erfaßt haben —, als es die Retrospektive wahrhaben möchte.

Fraglich ist auch, ob Kondylis recht daran tut, das Moment der Diskontinuität, des Bruchs zwischen Moderne und Postmoderne so stark zu betonen. Man kann doch schwerlich an der Tatsache vorbeisehen, daß eben jenes Bürgertum, dem Kondylis heimliche Bewunderung gilt, einen Prozeß eingeleitet und beschleunigt hat, an dessen Anfang die Verwandlung von Geld in Kapital, von Natur in Rohstoff, von Arbeitsvermögen in Arbeitskraft steht und an dessen Ende eine hedonistische Konsumentendemokratie, die vor keinem Exzess zurückschreckt. Man kann die Herstellung des inneren Weltmarktes, die Kondylis für die Postmoderne konstatiert, nicht von der vorangegangenen Herstellung des äußeren Weltmarktes trennen. Der Sache nach gehören beide zusammen.

Auch empirische Einwände lassen sich gegen Kondylis geltend machen. So ist keineswegs ausgemacht, ob es sich bei dem von ihm diagnostizierten Trend weg von der erzählenden Historie hin zur strukturbildenden Soziologie, die dem Übergang von der «Zeit» zum «Raum», von der liberalen Moderne zur massendemokratischen Postmoderne entsprechen soll, um eine unumkehrbare Tendenz handelt. Die Ablösung der Soziologie als Leitwissenschaft durch die Geschichtswissenschaft, die in den achtziger Jahren ihre spektakuläre Wiederkunft erlebte, spricht eigentlich gegen die Annahme unumkehrbarer Trends: Die soziale Empirie ist augenscheinlich viel bunter und facettenreicher, als man manchmal glauben mag.

Dennoch hat Panajotis Kondylis ein Buch geschrieben, das keine seriöse Gesellschaftstheorie, die aufs Ganze geht, künftig wird ignorieren können. Was nicht zuletzt beeindruckt, ist die Attitüde. Sein Autor hat es auf immerhin 300 Seiten fertiggebracht, keinen Namen zu nennen, kein fremdes Werk zu erwähnen oder zu zitieren. Es ist, als bilde Kondylis mit dieser äußersten Askese gegen alles Subjektive noch einmal jene «objektive» Welt geistig nach, deren Niedergang er für unwiderruflich hält.

QUELLE: Hans-Martin Lohmann, Die Zeit, 6.12.1991 – Als PDF
über H.-M. Lohmann

Tagged:

Σχολιάστε

What’s this?

You are currently reading Ich kaufe, also bin ich at Π.Κονδυλης (Kondylis).

meta